Hanoi

Seit 2010 ist es 1000 Jahre her, dass König Ly Thai To seinen eigenen Hof am Fuße des Roten Flusses
errichtete, just zu dem Zeitpunkt, als ein goldener Drache gen Himmel flog und Thang Long (Stadt
des aufsteigenden Drachens) für gut 800 Jahre zur Hauptstadt der Nation wurde. Dann kamen die
Franzosen und machten unter ihrem Protektorat die kleine Provinzhauptstadt Ha Noi (Stadt an der
Biegung des Flusses) nach 1887 zum Regierungszentrum für die gesamte Union Indochinas und damit
zur Kolonialstadt. Im Zweiten Weltkrieg marschierten die Japaner ein, und schließlich, im Winter 1972,
flogen die Amerikaner mit ihren B-52-Bombern über Hanoi.
Wer noch eine Stadt erleben will, eine schöne, lebendige Stadt, in deren Straßen kein McDonald’s zu
sehen ist, eine Stadt, wo die Menschen zu überleben scheinen ohne Supermärkte und ohne
kathedralengroße Tankstellen, der muss Hanoi besuchen, und er muss es bald tun. Er kann dort
erleben, wie sich eine asiatische Stadt mit dem europäischen Erbe glücklich arrangiert hat und wie
human und behaglich sich so eine Stadt anfühlt, wenn die internationalen Ladenketten ihre Breschen
noch nicht schlagen durften.
Denn Vietnam ist nun auf dem großen Welt-Supermarkt der WTO. Schon setzt die
Welthandelsorganisation ihre Regeln auch in Vietnam durch. Hanoi wird bunter auf den ersten Blick
aber auch anders: kolonisiert auf ein Neues, aber freiwillig diesmal.
Tausend Geschichten, so sagt man, gebe es hier, für jedes Jahr des Stadtlebens eine. Die Mauern
nahe der Altstadtgassen erzählen sie, die alten Häuser und die schönen Tempel und Pagoden, aus
deren verwitterten Dächern sie aufsteigen wie Dunst.
So scheint Hanoi zerrissen zu sein zwischen dem Wunsch, die Geschichte zu konservieren, und dem
Drang, so sein zu wollen wie andere. Dann wiederum wirkt es wie eine Stadt, die schon alles erlebt
und gesehen hat. Die nirgendwo mehr hingehen kann und deshalb auch keine Eile hat, dorthin zu
kommen - eine Stadt auf der Suche nach der verlorenen Zeit.